Orientierung



Was ist "gutes Leben"? Darauf gibt es wahrscheinlich mehr als nur eine Antwort. Aber immer häufiger wird "gutes Leben" auch als Maßstab genannt, wenn es darum geht, Alten und Kranken in unserer Gesellschaft ein Dasein unter humanen Bedingungen zu ermöglichen und Qua- litätskriterien zu beschreiben, die - überwiegend auf kommunaler Ebene - durch die Einrichtungen der Versorgung, Betreuung und Pflege erfüllt sein müssen.


Philosopie: Was ist das "gute Leben"?

"Was ein gutes Leben ist", schreibt Hartmut Rosa in der ZEIT (13.06.2013), "muss jeder für sich selbst entscheiden. Darüber lässt sich nichts Verallgemeinerbares sagen. Wirklich nicht? Als meine Großmutter im Sterben lag und gefragt wurde, was sie in ihrem Leben anders machen würde, wenn sie es noch einmal leben könnte, meinte sie: Nicht viel. Aber sie hätte nicht mehr so viel Angst. Diese Aussage ist erstaunlich verallgemeinerbar: Sich weniger gesorgt und mehr um die Freunde gekümmert zu haben ist ein Wunsch, den viele Menschen rückblickend für ihr Leben haben. Angst haben aber ist eine Weise der Weltbeziehung. Welche Alternativen gibt es?" 

Die Ausbildung von Selbstwirksamkeitserwartungen und von intrinsischen Interessen [...] korreliert mit der Erfahrung von sozialer Anerkennung: Ohne Liebe, Achtung und Wertschätzung bleibt der Draht zur Welt – bleiben die Resonanzachsen – starr und stumm.
Wettbewerb und Beschleunigung aber, so steht zu vermuten, sind Resonanzkiller, weil sie systematisch Angst erzeugen, Angst davor, abgehängt zu werden, nicht mehr mithalten zu können, oder aber: immer schneller laufen und mehr leisten zu müssen, nur um den Platz in der Welt zu halten. Diese Angst aber, so haben wir eingangs gesehen, stiftet eine problematische Weltbeziehung. Warum wissen wir über all das fast nichts? Die strikte Privatisierung der Frage nach dem guten Leben war ein historischer Fehler – es ist an der Zeit, ihn zu korrigieren!

Der Traum vom guten Leben

In ihrem Hörfunk-Beitrag "Der Traum vom guten Leben" (wdr, 11.06.2017) geht Autorin Caroline Nokel der Frage nach, was unter den heutigen (urbanisierten) Bedingungen echte Lebensqualität sein kann. 

Einige Antworten aus der genannten Sendung:

Sprecherin:
Der Volkswirt Alberto Acosta war Energieminister in Ecuador. Er hat viel zum „guten Leben“ geforscht und geschrieben. Jeder Mensch habe das Recht auf ein gutes Leben, egal ob in den Industrie- oder den so genannten Entwicklungsländern, so Acosta. Es bedeute weder dolce vita für wenige, noch sei es eine Erfindung gut situierter, westlicher Hippies und Ökospinner.

O-Ton Alberto Acosta:
Buen vivir“ oder gutes Leben, wie man auf deutsch sagt, ist eine Möglichkeit, eine ganz andere Welt zu organisieren und aufzubauen, wenn wir die Ideen, die Werte, die Erfahrungen und die Praktiken, die „buen vivir“ gehören, lernen und schätzen können. Diese Ideen, diese Praktiken, die schon lange existieren, sind in verschiedenen indigenen Gemeinden vorhanden. Sei es im Amazonasbecken oder anderen Regionen und auch woanders in der Welt. Das Interessante dabei ist, dass man diese Ideen nicht unbedingt kopieren kann und in andere Wirklichkeit übertragen kann, aber man kann sehr viel von den Grundpfeilern diesen Ideen, diesen Praktiken lernen, und vielleicht können wir uns eine ganz andere Welt wünschen und organisieren.

Sprecherin:
Die Grundpfeiler des „buen vivir“ sind die Verbundenheit mit der Natur, die Vorstellung, dass jeder Mensch Teil einer Gemeinschaft ist und nicht nur ein Individuum, und der Aufbau respektvoller, vertrauensvoller Beziehungen. Nicht nur zwischen den Menschen untereinander, sondern zwischen allen Lebewesen. „Mutter Erde“ sei für die indigenen Völker keine Metapher, sondern Teil ihrer Realität. Diese Lebensweise stehe im Gegensatz zur Ausbeutung der Natur, wie sie heute ganz selbstverständlich weltweit praktiziert wird.
[...] Sich mit anderen zusammenzutun, um etwas zu erreichen, ist nicht nur strategisch klug. Es entspreche der Idee des „buen vivir“, so Alberto Acosta:

O-Ton Alberto Acosta:
Was wir brauchen, ist ein neuer Gemeinschaftssinn. Wir müssen nicht nur mit dem Fahrrad fahren, nicht nur ökologisch kaufen, nicht nur uns allein anderes Verhalten in unser Leben einzuführen. Wir brauchen mehr Kontakt mit den Menschen. Fangen wir mit unseren Nachbarn an. Kennen wir unsere Nachbarn? Unternehmen irgendetwas zusammen mit unseren Nachbarn? Da müssen wir uns fragen, wie wir das machen können. Es gibt gewisse Ansätze. Ich weiß, es ist nicht einfach. Für viele Leute, der Individualismus ist stark eingeprägt. Und die Neid, Frustrationen sind so stark, Ängste, das wird nicht von heute auf morgen weg sein. Da müssen wir diese neue Beziehung schaffen.



Ringen um einen BegriffWas ist das gute Leben?

Die Zeitung mit dem klugen Kopf dahinter lässt einen ihrer klugen Köpfe darüber nachdenken, warum das "gute Leben" zur Zeit in aller Munde ist. Zitate:

>> Für einen Sonntag, den „Tag des guten Lebens“, wurde es kürzlich im Kölner Stadtteil Sülz Wirklichkeit. „Was genau das gute Leben ist, können und wollen wir nicht vorgeben“, schreiben die Veranstalter im Internet, „wir finden einen gemeinsamen Nenner aber in einem sozialen, nachbarschaftlichen und fairen Umgang und der Rücksicht auf unsere Umwelt.“
Das klingt gut, ist es wahrscheinlich auch. Gegen Fairness und Rücksicht auf die Umwelt ist schließlich nichts zu sagen. Im Gegenteil, etwas mehr davon könnte häufig nicht schaden. Gar nicht gut ist hingegen der inflationäre Gebrauch des scheinbar harmlosen Wortes „gut“, das immer häufiger in einem Atemzug mit dem mit dem bedeutungsschweren Substantiv „Leben“ verwendet wird. Nicht nur auf alternativen Straßenfesten ist vom „guten Leben“ die Rede, das Begriffspaar hat Hochkonjunktur, selbst die Bundesregierung will mit ihrem jüngst gestarteten Bürgerdialog herausfinden, was das „gute Leben“ ist – und wird es sicherlich nicht bei Worten belassen.

Kanzlerin Angela Merkel betont in ihren Bürgersprechstunden zwar, „keine Antworten“ zu haben, schließlich sei die Regierung noch auf der Suche nach dem, was das gute Leben ausmacht. Die Menschen sollen ihr sagen, was ihnen auf der Seele brennt. 
Doch die Instrumente, um die bald gefundenen Erkenntnisse ins Werk zu setzen, stehen schon bereit. Das Kanzleramt suchte kürzlich nach „Nudging“-Fachleuten, die beim „wirksamen Regieren“ helfen sollen. Verhaltensökonomisch geschultes Personal könnte dafür sorgen, den Bürgern kleine Schubser zu geben, damit sie „gut“ leben.<<

Das Hauptaktionsfeld staatlichen Nudgings sind übrigens die zahlreichen Kampagnen zur Förderung des ehrenamtlichen Engagements. Da wird der Bürger förmlich rundgenudget.  
Der Bielefelder Soziologe Stefan Kühl beschreibt das Verfahren im Zusammenhang mit der Hilfe für syrische Flüchtlinge:

Angesichts der katastrophalen Lage in Syrien haben alle deutschen Bundesländer – mit der, man möchte fast sagen, „üblichen“ Ausnahme von Bayern – humanitäre Aufnahme-programme für syrische Familienangehörige aufgelegt. Das Prozedere ist denkbar einfach: Bereits in Deutschland lebende Syrer können den Nachzug von Verwandten beantragen, soweit eine Person mit hinreichendem Einkommen sich bereit erklärt, im Bedarfsfall für deren Unterbringungs- und Lebenshaltungskosten aufzukommen. [...]  Die Abgabe von Verpflichtungserklärungen ermöglicht den durch Schutzgelderpressungen in den IS-besetzen Gebieten, Folter durch das Assad-Regime oder Zwangsrekrutierung für die kämpfende Truppen bedrohten Syrern eine Ausreise nach Deutschland – und zwar ohne dass sie ihr Leben auf dem Weg über das Mittelmeer in die Hände von profitorientierten Schleppern legen oder auf dem schwierigen Weg über die Balkanroute korrupte Beamte schmieren müssen. [...] Wird die Geltung der geforderten Verpflichtungserklärungen begrenzt, etwa auf den Zeitraum bis zur Anerkennung des Betreffenden als Asylant oder Flüchtling nach Genfer Konvention, dann wird ein gezielter Anreiz gesetzt, solche Verpflichtungserklärungen abzugeben. Das finanzielle Risiko für den Verpflichtungsgeber ist dann überschaubar, weil es nur die Zeit von wenigen Monaten betrifft.

In der politischen Steuerungslehre wird ein solches Setzen von kleinen Anreizen als „Nudging“ – Anschubsen – bezeichnet. Statt immer mehr Aufgaben in staatliche Verantwortung zu übernehmen, zielt der Ansatz des Nudging darauf ab, durch die manchmal minimale Veränderung von Rahmenbedingungen Anreize zu setzen, um Eigenengagement zu fördern. Die Verpflichtungserklärung mit praktisch handhabbarem Risiko bietet Bundesbürgern, die dem Sterben in Syrien und auf dem Mittelmeer nicht mehr tatenlos zusehen wollen, eine Option sich zu engagieren. Sie fördert gleichzeitig die schnelle Integration der Flüchtlinge, indem diese an ein Netzwerk von Personen angebunden werden, die durch privates Engagement Zugang zu Wohnungs- und Arbeitsmarkt vermitteln können."

Wie kann gutes Leben gelingen?
Das fragt sich auch das "Phlosophische Radio" bei wdr5 am 28.07.2017. Text zur Sendung:
"In der pluralistischen Gesellschaft gibt es unendlich viele Varianten, wie man sein Leben gestalten kann. Wie lässt sich angesichts dessen ein gutes Leben leben? [...] Was ein schlechtes Leben ist, dazu haben wir viele Fantasien. Was aber macht ein gutes Leben aus? Können wir selbst das Drehbuch dazu schreiben? Darüber diskutierten die Philosophin Barbara Reiter und Moderator Jürgen Wiebicke mit dem Publikum."

Nachhören in der Mediathek

Moderator Jürgen Wiebicke sucht den Einstieg in die Diskussion, indem er mit unüberhörbarer Belustigung an den von April bis Oktober 2015 von der Bundesregierung durchgeführten Bürgerdialog "Gut leben in Deutschland – was uns wichtig ist" erinnert. In den insgesamt 203 Veranstaltungen vor Ort mit 16.000 Teilnehmern, ergänzt durch Online-Dialog und Postkartenaktion holte die Bundesregierung Auskünfte darüber ein, was den Bürgerinnen und Bürgern besonders wichtig sei und was für sie Lebensqualität in Deutschland bedeute. Auf einer eigenen Seite wurden die Ergebnisse der Bürgerbefragung, die regelmäßig wiederholt werden soll, präsentiert. Verfügbar ist auch ein 241-seitiger Bericht als PDF-Dokument

Mit Rücksicht auf die Thematik dieses Blogs sollen hier einige Ergebnisse des Berichts der Bundesregierung präsentiert werden, die besonders kennzeichnend sind für die Lebens-situation von Pflegebedürftigen, pflegenden Angehörigen, der älteren Generation insgesamt.
Auf Pflege angewiesen zu sein, gehört zu den Lebenssituationen, die jeden Menschen im Lebensverlauf irgendwann treffen können. Das Thema hat die Dialogteilnehmer beschäftigt und wird künftig weiter an Bedeutung gewinnen. So stellten die Bürgerinnen und Bürger den Bedarf einer qualitativ hochwertigen pflegerischen Versorgung fest, ambulant wie stationär. Die Menschen wünschen sich, im Alter in ihrer vertrauten Umgebung bleiben zu können – in Stadt und Land. Insgesamt waren zum Jahresende 2013 rund 2,6 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig (vgl. Abb. 12). Das sind ca. 3,3 Prozent der Gesamtbevölkerung. Bei den Über-65-Jährigen ist jede achte Person pflegebedürftig. Betrachtet man die sogenannte Lebenszeitprävalenz, d.h. die Wahrscheinlichkeit, jemals im Leben pflegebedürftig zu sein, so sind es über die Hälfte aller Menschen in Deutschland, die zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrem Leben Leistungen aus der Pflegeversicherung beziehen – meist gegen Ende des Lebens.
Die Bundesregierung arbeitet kontinuierlich daran, Pflegebedürftige und ihre Angehörigen möglichst gut zu unterstützen und die langzeitpflegerischen Versorgungsstrukturen bundesweit weiter zu entwickeln. Unabhängig davon gilt es, die „Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftigerMenschen“ als Maßstab würdevoller Pflege weiter zu verbreiten und in den Einrichtungen umzusetzen.
Die individuelle Situation der Pflegebedürftigen ist sehr unterschiedlich: Aktuell werden sieben von zehn Pflegebe-dürftigen zu Hause versorgt. Die große Mehrheit der im eigenen Haushalt lebenden Betroffenen wird ausschließ­lich durch Angehörige gepflegt, ein Drittel durch ambulante Pflegedienste. Knapp 30 Prozent der Pflegebedürftigen lebt dauerhaft in einem Pflege- oder Altenheim.  
Zur Entlastung pflegender Angehöriger wurden die Betreuungs- leistungen z.B. in der Tages- und Nachtpflege sowie in der Kurzzeitpflege verbessert. Das kommt vor allem pflegenden Frauen zugute, die mit 65 Prozent den überwiegenden Anteil der pflegenden Angehörigen darstellen. Darüber hinaus haben ab 2017 alle Versicherten in Pflegeheimen einen Rechtsanspruch auf zusätzliche Betreuungskräfte.  
Das dritte Pflegestärkungsgesetz stärkt die Kommunen, damit sie Pflege-bedürftige und deren Angehörige zukünftig besser wohnortnah unterstützen können – durch Beratung und eine bessere Zusammenarbeit der Beratungsstellen vor Ort.  
Pflegebedürftigkeit geht für die Betroffenen, aber auch ihre Angehörige mit zum Teil großen physischen und psychischen Anstrengungen und finanziellen Belastungen einher. Was Pflegebedürftige unter Lebensqualität verstehen, unterscheidet sich von Mensch zu Mensch und hängt maßgeblich vom Grad der Einschränkung und der individuellen Pflegesituation ab. Es macht einen Unterschied, ob der Betroffene noch selbständig im eigenen Haushalt lebt und nur punktuell Unterstützung durch Familienangehörige oder einen ambulanten Pflegedienst braucht oder ob eine dauerhafte stationäre Pflege erforderlich ist. Diese unterschiedlichen Lebenslagen von Pflegebedürftigen machen die Messung von Qualität in der Pflege schwierig [??? Purer Unfug!!!]. Derzeit ist kein geeigneter Indikator verfügbar.
Der übliche Trick: Natürlich haben Pflegebedürftige und Pflegende unterschiedliche Ansprüche, sind unterschiedlich belastet, leben in unterschiedlichen finanziellen Verhältnissen usw. Trotzdem gibt es Indikatoren für gut und schlecht, ausreichend und defizitär usw. Doch in einer Situation, die alles andere als "rosig" ist und in der immer nur nach dem Prinzip "Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel" gestärkt wird, wird jede objektive Qualitäts-verbesserung eben teuer. Sich bei der Messung von Mindeststandards nicht festzulegen, ermöglicht kostensparendes Weiterwurschteln auf Kosten pflegender Angehöriger und ebenso überlasteter wie unterbezahlter Pflegeprofis.

Zurück zu den philosophischen Hörfunk-Betrachtungen des Lebens an sich. Erfahren wenigstens diejenigen, die sich nicht mit den physischen, psychischen sowie finanziellen Belastungen einer Pflegesituation auseinandersetzen müssen, welches die Indikatoren eines guten Lebens sind? Moderator Wiebicke schlägt einen bei Philosophen besonders beliebten "Ausflug in die Philosophie der Antike" vor. Im Anschluss daran will man gemeinsam "kucken, inwiefern sich das, was vor zweieinhalb tausend Jahren gedacht worden ist, auf unser Leben heute in irgendeiner Weise beziehen lässt."  Irgendwie hat man das ja zu allen Zeiten hingekriegt. Kuckst du Altphilologie und humanistisches Gymnasium. Nur: "Quem jucktat?", wie der stoische Lateiner die Achseln zuckt.

Was fordert die Fachwelt?

Schauen wir also lieber direkt mal nach, was engagierte Fachleute zwecks Realisierung eines "guten Lebens" einfordern. Der Aufsatz "Die Versorgung dementiell Erkrankter in der Kommune" von Angelika Trilling, ist mir da besonders aufgefallen. Trilling ist im Sozialamt der Stadt Kassel (ca. doppelt so viel Einwohner wie der Vogelsbergkreis) für die Altenhilfeplanung zuständig. Sie spricht von Unzulänglichkeiten eines "versäulten" Systems sozialer Sicherung, die mühsam kompensiert werden müssten. Die hierbei bestehenden kommunalen Handlungsspielräume beschreibt Trilling folgendermaßen:

>> Bei allem Aufwand und gutem Willen, mit dem sich die Gebietskörperschaften im Handlungsfeld Demenz betätigen, sind sie gefangen in ihrer vom Bundesgesetzgeber vage definierten Rolle, die durch Landesrecht – zumindest in Hessen – nur unwesentlich klarer wird: 

a) Grundgesetz Artikel 28 schreibt die Verpflichtung zur Daseinsvorsorge der Kommunen fest. Das umfasst natürlich auch die Daseinsvorsorge für demenziell Erkrankte und ihre Angehörigen – wie immer diese auszugestalten ist. 
b) Bei der Aufstellung von Bauleitplänen sind gemäß § 1 Baugesetzbuch soziale Belange zu berücksichtigen. Als besondere Gruppen sind auch die Familien, die Älteren, die Behinderten genannt: Schnittmengen der Demenzversorgung allemal, deren spezifische Interessen in diesem Kontext indes erst in den Blick zu nehmen wären. 
c) § 75 Bundessozialgesetzbuch5 verpflichtet den Sozialhilfeträger zur „Altenhilfe“. Die Demenz als eine mit der Hochaltrigkeit eng verknüpfte Erkrankung zählt zweifellos zu den dort benannten „Schwierigkeiten, die durch das Alter entstehen“ und zu deren Verhütung, Überwindung und Milderung ein Beitrag zu leisten ist. Vom Informationsblatt bis zum spezialisierten Entlastungsdienst für Demenzerkrankte kann damit vieles gemeint sein. 
d) In § 8 des Pflegeversicherungs-Gesetzes sind die Kommunen gemeinsam mit allen nur denkbaren Akteuren aufgefordert, an der Gewährleistung der pflegerischen Versorgung mitzuwirken – was immer die übrigen Mitspieler davon halten und dafür tun mögen. 
e) Von der Bereitstellung kommunaler Mittel macht es das PflegeleistungsErgänzungs-gesetz schließlich abhängig, ob und in welchem Umfang Mittel der Pflegekassen in niederschwellige Betreuungsangebote und Modellvorhaben fließen. [§ 45c, (2).] 

Mit dem Instrument der Altenhilfeplanung – die allerdings sehr unterschiedlich ausgeprägt ist – können die Kommunen in gewissem Umfang Einfluss nehmen auf die Qualität der Versorgung für demenziell Erkrankte. Ihre wesentlichen Strategien sind: 
- die Initiierung und Moderation von Kooperationsgremien; 
- Öffentlichkeitsarbeit, Fortbildung und Fachberatung; 
- die Beteiligung an Forschungsvorhaben und Modellprojekten; 
- die Berichterstattung an politische Gremien.<<

Im Anschluss an die Darstellung der kommunalen Verpflichtungen, die in der Frage des "Ob" nur sehr wenige, in der Frage des "Wie" allerdings zu große Spielräume lassen, referiert Trilling die Ergebnisse einer bereits 2001 vom Magistrat der Stadt Kassel in Auftrag gegebenen Pflegestudie, in der insgesamt 1.500 Bürger im Alter von 40 bis 60 Jahren nach ihren Einstellungen zu Pflege und Pflegebedürftigkeit befragt wurden.

>> Einige weitere Ergebnisse, die in unserem Kontext interessant sein dürften:
  • 50 % gaben an, bereits selbst Pflege geleistet oder diese organisiert zu haben. 
  • erstaunliche 52 % der Befragten konnten sich die Unterbringung pflegebedürftiger Angehöriger in einem Heim vorstellen; 
  • nur 18 % erklärten sich zur Übernahme der häuslichen Versorgung bereit, es sei denn, ihnen stünde entsprechende Unterstützung zur Verfügung;
  • 95,5 % der Befragten hielten eine eigene Pflegebedürftigkeit für wahrscheinlich; 
  • ein Drittel von ihnen konnte für diesen Fall niemand als potentielle Pflegeperson benennen; ein weiteres Drittel nur eine einzige Person; 
  • knapp 40 % der Befragten halten daher ihre eigene Versorgung im Pflegefall nicht für gesichert, weitere 22 % sind sich hierüber unsicher; 
  • fast schon folgerichtig, wenn auch erschreckend, ist schließlich, dass 85 % der Befragten sich eine Legalisierung der Sterbehilfe nach niederländischem Modell wünschen. 
Wären die Befragten zur Demenz statt zur Pflegebedürftigkeit allgemein befragt worden, die Ergebnisse hätten nicht viel anders ausgesehen. <<

"Um der Herausforderung von Pflege und Demenz begegnen zu können", so Trillings Schlussfolgerung, müsse die kommunale Ebene  "stärker als bisher ihren Auftrag zur Daseinsvorsorge für ältere Menschen in den Kontext von Wirtschaftsförderung, Arbeits-marktpolitik und der Stadtplanung rücken."  Zur "städtischen Kultur einer ergrauenden Ge-sellschaft" gehöre "die Einbeziehung derer, die mit Demenz leben."

Inzwischen - der zitierte Aufsatz ist über zehn Jahre alt -  hat sich die Forderung nach der "dementfreundlichen Kommune" fest etabliert. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. Selbsthilfe Demenz hat hierzu einen Maßnahmenkatalog aufgestellt. Auszug:


Ein besseres Leben für Menschen mit Demenz in den Kommunen
  1. In jeder Kommune bzw. jedem Stadtteil sollte es einen Demenzbeauftragten geben.
  2. Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit sollten die Bürger informieren und dadurch für mehr Verständnis sorgen.
  3. Beratungsstellen, Entlastungs- und Pflegeangebote, die auf die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen eingestellt sind, müssen gut erreichbar sein und auch bekannt gemacht werden.
  4. Im Sinne der Inklusion sollten bestehende Angebote für Menschen mit Demenz geöffnet werden, etwa Seniorenfreizeitstätten, Sport- und Musikvereine.
  5. Vertreterinnen und Vertreter der Kommunalverwaltung, des Gesundheitswesens, der Ärzte, Pflege, aus Vereinen, der Selbsthilfe usw. sollten regelmäßig zu Runden Tischen bzw. Lokalen Allianzen zusammen kommen, um gemeinsame Maßnahmen und Aktivitäten abzustimmen.
Die Ministerin für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren in Baden-Württemberg, Katrin Altpeter, entwarf im Interview mit der Techniker-Krankenkasse (11.11.2015) folgendes Bild einer ausreichenden Pflegeinfrastruktur für Menschen mit Demenz und ihre pflegenden Angehörigen:


TK: Was ist besonders wichtig bei der Betreuung demenzerkrankter Menschen? Wie muss die Pflegeinfrastruktur in Baden-Württemberg weiterentwickelt werden? Geht es vor allem um stationäre Angebote - also Heime - oder gibt es ambulante Alternativen?

Ministerin Altpeter: Zwei Drittel der pflegebedürftigen Menschen werden zu Hause versorgt, darunter sind auch viele Menschen mit dementiellen Erkrankungen. Deshalb setze ich mich dafür ein, die pflegerische Infrastruktur gerade im ambulanten Bereich beziehungsweise im Vor- und Umfeld von Pflege weiter auszubauen.

Sogenannte niedrigschwellige Betreuungsangebote als Gruppenangebote oder häusliche Betreuungsdienste sind landesweit hervorragend ausgebaut, helfen Demenzerkrankten und entlasten gleichermaßen deren pflegende Angehörige. Hinzu kommen Seniorennetzwerke und Pflegebegleiter-Initiativen, die mit Alltagsbegleitung und speziell auf pflegende Angehörige zugeschnittenen Angeboten die Pflege erleichtern.

Über 850 solcher Angebote und Initiativen bestehen im Land und werden aus Mitteln des Landes, der Kommunen und der Pflegekassen gefördert.

TK: Was muss zum Beispiel in den Kommunen unternommen werden, damit demenziell Erkrankte weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilhaben können?

Ministerin Altpeter: Die Unterstützung von Menschen mit Demenz, die Wertschätzung ihrer Fähigkeiten sowie ihre Teilhabe am öffentlichen Leben sind wichtige gesamtge-sellschaftliche Aufgaben, die nur gemeinsam und durch lokale Verantwortungs-gemeinschaften gelöst werden können.

Das Sozialministerium fördert deshalb unter Einbindung und Mitverantwortung der kommunalen Landesverbände Projekte, die es Landkreisen, Städten und Gemeinden ermöglichen, eine Netzwerk-Versorgungsinfrastruktur im Sinne demenzfreundlicher Kommunen zu gestalten und zu koordinieren. Wir wollen so Entwicklungsprozesse, den Erfahrungsaustausch und die Verbreitung vorhandenen Wissens unterstützen.

Mit unserem Innovationsprogramm Pflege wiederum fördern wir Projekte, die dazu beitragen, Menschen mit Unterstützungs-, Betreuungs- und Pflegebedarf - insbesondere auch demenzkranken Menschen - möglichst lange ein selbstbestimmtes Leben in ihrer gewohnten Umgebung zu ermöglichen, beispielsweise durch den Ausbau von Tagespflegeplätzen.

TK: 48 Prozent der Pflegebedürftigen werden ausschließlich von Angehörigen gepflegt. Wie kann die Politik pflegende Angehörige bei dieser Aufgabe unterstützen?

Ministerin Altpeter: Mit der Förderung von Angeboten und Initiativen im Vor- und Umfeld von Pflege haben wir gerade auch die Entlastung informeller Pflegepersonen im Blick. Das Land fördert beispielsweise Pflegebegleiter-Initiativen, in denen sich ehrenamtlich-bürgerschaftlich Engagierte mit entsprechender Schulung um pflegende Angehörige kümmern und diesen in der oft belastenden Pflegesituation beistehen.

Das kann je nach individuellem Bedarf z. B. durch regelmäßige Telefonate, Begleitung bei einer Auszeit im Café oder bei einem Spaziergang einschließlich sachkundiger Beratung geschehen. Aber auch die vielen Betreuungsangebote in Gruppen oder in den eigenen vier Wänden ermöglichen pflegenden Angehörigen für zwei bis drei Stunden eine kleine Verschnaufpause.

TK: Demenzerkrankte Menschen benötigen speziellen Umgang, wenn sie Patienten werden - z.B. im Krankenhaus. Reagiert darauf die Landeskrankenhauspolitik?

Ministerin Altpeter: Mit dem Geriatriekonzept 2014 haben wir eine mit allen Akteuren der altersmedizinischen Versorgung abgestimmte Konzeption dieser Versorgung erarbeitet. Sie bezieht sich ausdrücklich auch auf Menschen mit Demenz. Zentral ist bei allen Herangehensweisen, dass zunächst das Risiko von Patienten mit Demenz bei der Krankenhausaufnahme erkannt wird.

Deshalb setze ich mich dafür ein, dass in allen Krankenhäusern bei der Aufnahme von Patienten der sogenannte Geriatrie-Check durchgeführt wird. Das ist ein Fragenkatalog für alle neue Patienten ab 70 Jahren, mit dem Demenzkranke gleich zu Beginn ihres Krankenhausaufenthalt identifiziert werden können. Als Konsequenz kann ein solcher Patient dann etwa in einer Geriatrischen Behandlungseinheit behandelt werden. Immer mehr Krankenhäuser richten solche Behandlungseinheiten ein, die medizinisch, baulich und personell speziell auf ältere Menschen ausgerichtet sind.

Größere Kommunen wie etwa die Stadt München haben kommunale  "Demenz-Strategien" entwickelt, die exakt festlegen, über welche Institutionen und Maßnahmen/Angebote die Betreuung von MmD und ihren pflegenden Angehörigen in einem definierten Zeitrahmen erfolgen soll.



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